Der Mensch hat seit Anbeginn seines Existierens alles, was in der Natur vorkommt, systematisch auf seinen ernährungsspezifischen und auch auf seinen medizinischen Nutzen geprüft. Er hatte über Jahrtausende einen sehr unmittelbaren Zugang zur Natur, einen überlebenswichtigen eben. Was immer er in der Natur vorfand, wurde der Frage "Was kann mir das nützen?" unterzogen.
Immer überlegte er sich, wie das Ding, das da wächst, liegt, steht oder kreucht und fleucht Teil unserer selbst werden könnte. Wie wird es zu einem Baustein im eigenen Körper, auf dass es da drin eine nützliche Aufgabe verrichte? Seit der Kampf ums Überleben weniger anstrengend geworden ist und seit für viele Menschen der direkte Kontakt zur Natur nicht mehr so direkt ist wie damals, also seit dem Aufkommen von Städten, seit wir dort Produkte auf dem Markt von den Bauern beziehen können und natürlich erst recht seit der Industrialisierung, seit der Entstehung der modernen Lebensmitteltechnologie und Medizin, ist diese vormals überlebenswichtige Frage, was aus der Natur uns ernährt, hilft und heilt, nicht mehr so gegenwärtig. In Asien ist die Vergangenheit noch präsent, in China vielleicht noch mehr als in anderen Ländern jener Gegend, denn die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) hat eine einmalig umfassende Sicht auf die Natur bewahrt, fussend auf ihrer Erkenntnistheorie und einem Naturverständnis, welche die Bedingungen für eine echte Wissenschaft, wie wir sie fordern, erfüllt. Die Werkzeuge, mit der man die Natur vermisst, sind dort nur nicht der Meter, die Waage und die Stoppuhr, wie wir sie in unserer westlichen Schulmedizin brauchen und damit den Zuckergehalt im Blut, das Cholesterin, die Höhe des Blutdrucks und die Zeit der Blutsenkunsreaktion etc. messen, sondern die Natur und der Mensch werden nach Yin & Yang und nach Entsprechungen im System der fünf Elemente, auch Wandlungsphasen genannt, vermessen.
Einst fuhren ein europäischer TCM-Lehrer und sein chinesischer Gast, auch ein TCM-Experte über Land, da sprang vor ihnen ein Fasan über die Strasse. Gleichzeitig kommentierten die beiden das Ereignis: während der Europäer die Schönheit des Fasans pries, rief der Chinese: ‘Schau, was für ein feines Essen da über die Strasse hüpft!’.
Jede Pflanze, jeder Stein, jedes Mineral und jedes Tier, ja selbst jedes Teilstück von allem Erwähnten und sogar vom Menschen selbst wurde früher bei uns und in China vielerorts noch heute auf seine gesundheitsfördernde Wirkung geprüft. Wir alle wussten, dass der Mensch das ist, was er isst. Bei uns geht das immer mehr vergessen. In China sagt man aber noch heute, dass die nächste Generation das sein wird, was die vorhergehende gegessen hatte und sie richten ihr Leben darauf aus, durch ihr eigenes Verhalten und richtiges Essen eine gute Basis für ihre Kinder und Kindeskinder zu schaffen. Selbst vor der Zeugung eines Kindes bereiten sich manche chinesische Paare oft Monate im Voraus darauf vor und überlassen nichts dem Zufall. Die Wahl der richtigen Nahrungsmittel ist nebst dem richtigen Zeitpunkt wichtig. Alles kann also Medizin sein. Die beste Medizin ist das richtige Essen. Es bewahrt vor Krankheiten, es hält das Genom fit, im westlichen Sinn steuert es dieses. Epigenetik nennt sich dieser Teil der Wissenschaft: Gene entfalten ihre Wirkung dank Einflüssen von aussen: Essen und die Wahl der Nahrungsmittel sind solche Einflüsse, andere können sein Emotionen, das Klima (kein Sex während eines Unwetters!) und andere Lebensumstände. In China wird gesagt, dass das Verhalten einer Generation sich noch während neun weiteren Generationen zeigt: Zahnstellungen, ADS, ADHS, Körpergrösse, psychische Störungen etc. haben möglicherweise mehr mit der Ernährung der Eltern, Gross- und Urgrosseltern zu tun als wir meinen.
From Nose to Tail ist eine Bewegung in der Welt der Nicht-Veganer und Nicht-Vegetarier, die in den letzten Jahren im Westen aufgekommen ist. Vom Kopf bis zum Schwanz versucht der Metzger, wieder vermehrt alle Teile eines Tieres den Kunden schmackhaft zu machen und nicht mehr nur die ‘schönen’ Teile wie Filet u.ä. Wir hatten, bzw. haben immer noch mehrheitlich eine Vorliebe für schönes, rosarotes oder sogar weisses, nicht von Fett, Sehnen etc. durchzogenes Fleisch. Den Beweis für diese Vorliebe liefert uns der Preis. Er ist umso höher, je ‘sauberer’ das Fleisch ist. Das Filet kostet mehr als ein Sauschwänzli oder ein Gnagi, Knochen bekommt man sogar halb gratis.
Ganz anders in Asien: da sind Knochen das Wertvollste und das Filet wird als recht wertloses und einförmig langweiliges Fleisch taxiert. Nicht nur die Asiaten, auch unsere Gross- oder Urgrossmütter wussten, dass in den Knochen, im Knochenmark und in vielen andern Teilen eines Tieres manch wertvolle Substanzen vorhanden sind und dass z.B. Knochen Mineralien und andere Stoffe enthält, die der Mensch nach geeigneter Zubereitung im eigenen Körper verwerten kann. Auch manche Köche wissen das. Sie brühen aus Fleisch und Knochenresten und Gemüsen einen Fond, indem sie diese Teile stundenlang auskochen und das Ergebnis zur Herstellung von Grundsaucen benützen. Das macht ernährungstechnisch Sinn und zaubert geschmackliche Höhepunkte hervor.
Da viele Asiaten mit Stäbchen oder sogar mit den Händen essen, wird Fleisch in mundgerechte Stücke gehackt. Ein Poulet wird so zerhackt, dass immer von allem etwas dabei ist: Knochen, Sehnen, Muskelfleisch, Gelenke, Knorpel, Adern, Haut etc. Liebend gerne nagen sie diese Stücke ab und spucken die Knochen aus. Wenn Letztere mit dem grossen, schweren Metzgermesser zerhackt werden, schafft man sich Zugang zum Mark, was interessante Inhaltsstoffe freilegt. Wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, dass die Menükarte in hiesigen asiatischen Restaurants die Küche in Asien selbst vollumfänglich repräsentiert. Schweinefleisch und anderes süss-sauer? In Asien kaum je angetroffen ausser in Restaurants und Hotels, die von Westlern besucht werden.
Bleibt in China ein Pouletskelett übrig, so ist das die ideale Suppeneinlage oder es wird am nächsten Morgen während drei bis fünf Stunden von einer fleissigen Schwiegermutter in der Frühe (heute eher im mit Zeitschaltuhr versehenen Kochgerät) mit dem sogenannten Shi Fan, dem Reisbrei, dem Congee oder Porridge gekocht, auf dass es zum Frühstück bereit sei, denn in weiten Teilen des Landes kennt China keine kalten Mahlzeiten, sondern auch zum Frühstück etwas Warmes und Reichhaltiges. So kommt also der letzte Rest eines Poulets oder ein halb abgenagter Fisch zur Verwertung. Selbstredend werden auch andere Teile des Huhnes noch als äusserst wertvoll betrachtet: Hühnerfüsse gelten mit den Krallen als ausgesprochene Delikatesse, akkurat geputzt, geschält und mariniert. Als die Chinesen beobachteten, wie die Australier ihren Chicken die Füsse abhackten und fortwarfen, begannen sie, ganze Schiffsladungen davon nach China zu importieren. Die innere Haut des Hühnermagens ist eine regelrechte Medizin und wird teuer gehandelt.
Besondere Hühnerrassen werden als extra gut angesehen, zum Beispiel
diejenige mit den schwarzen Knochen oder der schwarzen Haut. Diese
werden teuer bezahlt. Ein mir bekannter Schweizer Züchter von
Seidenhühnern, der zufällig ein paar dieser Tiere mit andern kreuzte,
konnte die Hühnchen mit der schwarzen Haut und den schwarzen Knochen
nicht verkaufen, weil sie für unsere Augen ungewohnt, ja unansehnlich
waren. Nicht überraschend mögen manche in Asien an einem Fisch liebend
gern die Flossen, den Schwanz, den Kopf, das Gehirn, das Rückenmark, die
Lippen und überlassen den Rest, also das Filet den Westlern am Tisch.
Nach all diesen Ausführungen lässt es sich nun schon relativieren, wer nun eigentlich den besseren Umgang mit der Natur pflegt, die Chinesen oder wir, die wir nur die besten Stücke eines Tieres verarbeiten und den Rest zu Fleisch- oder Fischmehl verarbeiten, um dies dann völlig artungerecht wieder pflanzenfressenden Tieren wie Rindern zu geben. Sollen wir da noch erstaunt sein, wenn sowas wie Rinderwahnsinn aufkommt?
Die chinesische Medizin funktioniert nach dem System der Entsprechungen von Yin & Yang und den Fünf Elementen, wie das oben beschrieben wurde. Über rund dreissig Jahrhunderte von Beobachtung haben die Chinesen gemerkt, dass der menschliche Körper aus Bausteinen besteht, die in der Natur vorkommen oder mit ihrer Hilfe im Körper entstehen können. Wer mit offenen Augen durch die Natur geht, kann leicht Entsprechungen finden, die das Yin/Yang Prinzip oder die 5-Elemente-Lehre erfüllen. Gegen Durst (=Hitze, Mangel) hilft Wasser (kühlend, ergänzend), wenn man friert (Kälte) muss gewärmt (Wärme, Feuer, Sonne, Tag…) werden. Chinesen hatten beobachtet, dass Pflanzen, die am Wasser wachsen, geeignet sind, um überschüssiges Wasser im Körper zu drainieren. Kälte und Feuchtigkeit, die sich im Körper befindet und dort zu rheumatischen Beschwerden führt, kann so ausgeleitet werden. Unsere Weide ist ein klassisches Beispiel dafür, denn aus ihrer Rinde stammt die Salicylsäure, aus der eines der ersten industriell hergestellten Medikamente hervorging als Acetylsalicylsäure hervorging. Salicylsäure kommt nicht nur in Weiden vor, sondern auch in anderen Pflanzen, etwa in der Spier-Staude (Mädesüss), was dem Medikament den Namen Aspirin eintrug. In China war und ist man der Ansicht, dass die Entsprechungen (Signaturen), die von der Natur auf den Menschen übertragen ihre Berechtigung haben. Dass man also, wenn man Pferdefleisch ist, stark und hitzig wie ein Pferd wird.
Auch wenn man Chili isst, reagiert der Körper mit Hitze. Die kann dem einen helfen, dem andern schaden, je nach Konstitution und nach momentanem Befinden. Signaturen und Entsprechungen sind in allen Kulturen bekannt. Häufig haben sie ihre Berechtigung und die moderne Naturwissenschaft kann sie anhand der Inhaltsstoffe eines Krautes, eines Minerals, eines Tieres erklären und die klinische Wirkung bestätigt es. Es mag auch Fälle geben, wo bloss ein gewisser Symbolcharakter vorhanden ist, aber selbst solche Situationen können Wirkung zeigen, aus psychologischer Sicht ist das möglich und auch Placebo wirkt erstaunlich gut, das Gegenteil davon, Nocebo auch.
Wenn nun auch die chinesische Medizin zum Beispiel das Horn des Nashorns ausdrücklich nicht als Potenzmittel erwähnt, sondern zu einem ganz anderen Zweck, nämlich bei gewissen Formen von hohem Fieber gibt, so halten sich im Volksaberglauben doch hartnäckig andere Meinungen. Dies führt dazu, dass solche symbolbehafteten Tiere (und auch gewisse Pflanzen) vom Aussterben bedroht sind, weil ihr Wert gross ist und sie gejagt oder übermässig geerntet werden. Die meisten Chinesen können sich solche in der Regel teuren Mittel zwar gar nicht leisten, aber wenn heutzutage auch nur 0.1% oder 1% der chinesischen Bevölkerung sich das leisten kann, dann sind das schon 1,4 bzw. 14 Millionen Menschen. Der Schwarzmarkt für gewisse Produkte boomt. Die reiche asiatische Elite lebt nicht nur in China, sondern auch in Singapur, auf Indonesien, in den USA, auf Taiwan und es gehören auch Vertreter anderer Länder wie Japan, Thailand, Kambodscha, Indien und jetzt eben auch Europäer dazu.
Das ist eine traurige Situation, doch muss man zu bedenken geben, dass die heutigen Konsumenten aus China und anderswo nur die letzten Vollstrecker des traurigen Schicksals entsprechender Tiere und Pflanzen sind.
Die meisten dieser Arten sind bedroht, weil wir ihre Lebensräume bedrängen und stören, sei es durch Abholzung oder Übernutzung ihrer letzten Rückzugsgebiete, durch rücksichtsloses Ausfischen von Meereszonen, durch die Umweltverschmutzung, die der Fauna und Flora im allgemeinen zusetzt, durch intensive Wald- und Feldbewirtschaftung, Monokulturen, Einsatz von Umweltgiften, kriegerische Wirren, Übervölkerung und Klimawandel - kurzum wegen aller Folgen einer ausufernden Weltwirtschaft, die ständig neue Märkte erschliessen muss, weil das Kapital der Industrienationen wie wild nach solchen sucht, begierig, die Bedürfnisse von Anlegern privater und institutioneller Art zu befriedigen. Da wir uns nun mal auf das Abenteuer freie Marktwirtschaft eingelassen haben, müssen wir auch die Folgen tragen. Die an die Adresse Chinas gemachten Vorwürfe sind lediglich ein Teil der ganzen Problematik. An der Nase müssen in erster Linie wir uns nehmen. China ist da nur das letzte Glied in einer Kette von sich bedingenden Ursachen und Wirkungen.
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